Gedenkfeier zur Reichspogromnacht, 09.11.2012, Heilbronn, Synagogengedenkstein
Bernhard Löffler, DGB- Regionsvorsitzender Nordwürttemberg

Liebe Friedensfreundinnen und Friedensfreunde, l
liebe Antifaschistinnen und Antifaschisten,
liebe Kolleginnen und Kollegen,

Wir alle - aus sehr unterschiedlichen Zusammenhängen - sind heute
zusammengekommen um der Reichspogromnacht - der Nacht als am 09. November
1938 die Synagogen in Deutschland brannten, zu gedenken und ich bin sehr froh
darüber, dass wieder Viele der gemeinsamen Einladung des Friedensbüros Heilbronn,
der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes/ Bund der Antifaschisten, des
Evangelischen Jugenwerks und des Deutschen Gewerkschaftsbundes gefolgt sind.
Unser Gedenken scheint heute wichtiger denn je: Heute vor ziemlich genau einem Jahr
haben wir alle von den Morden der sogenannten Zwickauer Terrorzelle - mit dem
entlarvenden Namen Nationalsozialistischer Untergrund - Kenntnis nehmen müssen.
Wir haben erfahren, dass mehr als ein Jahrzehnt eine Gruppe von Nazis organisiert und
gewalttätig Menschen hingemordet hat, ohne dass dies auch nur ansatzweise von den
Sicherheitskräften in unserem Land erkannt oder ermittelt worden wäre, obwohl viele
Hinweise da waren. Erinnern möchte ich – in diesem Zusammenhang auch an die - seit
den 90iger Jahren - über 100 durch Nazis ermordeten Ausländer und Ausländerinnen,
aber auch durch von Nazis ermordete Deutsche, wie z.B. die Polizistin Michele
Kiesewetter, die hier in Heilbronn ermordet wurde.
Für mich stellen sich viele Fragen – und wenn wir uns die Ermittlungen des
Untersuchungsausschusses zur nazistischen Terrorzelle ansehen, dann ist es
schlichtweg unglaublich, welche Reihung von Vertuschen, Verschweigen – aktiven und
passiven Fehleinschätzungen von Behörden dazu geführt hat, dass diese nazistische
Gruppierung ihr menschenverachtendes Werk über Jahre unbehelligt fortsetzen konnte.
Ich bin froh, dass nun nach und nach die Wahrheiten ans Licht kommen! – und
andererseits wächst das Entsetzen mit jedem neuen Skandal um die Aufklärung der
Morde.
Und es ist klar: Widerlegt sind die sich lang haltenden Behauptungen, dass der
Rechtsradikalismus hier bei uns „nicht so schlimm wäre" und es sich nur „um ganz
Wenige handele": Über 100 Nazis – nach Aussagen des Innministers Friedrich – sind im
Untergrund tätig.
Widerlegt ist auch, dass man hier in Heilbronn die Naziszene vernachlässigen könne:
Ein führendes Mitglied des Kux- Klux- Klan wohnte hier, zwei Polizeibeamte aus der
Region waren aktiv im Ku-Klux-Klan und Lars Käppler, führender neuer Nazi lebte lang
in Neckarwestheim. Die "Aktionsgruppe Heilbronn" welche die Mordopfer der
"Zwickauer Zelle" verhöhnt trat im Umfeld des Naziaufmarsch zum 1. Mai 2011 verstärkt
im hiesigen Raum auf und im Heilbronner Gemeinderat sitzen weiterhin 1 Republikaner
und 2 PRO Heilbronn – Mitglieder. Die Pro- Bewegung ist die rechtsradikale Bewegung,
welche besonders durch ihre Islam-Feindlichkeit auffällt und welche die
durchgestrichene Moschee Allen entgegenstreckt.
Die durchgestrichene Moschee, - ein Gotteshaus, das von denen nicht gewollt wird, -
fast wie damals, als Gotteshäuser angezündet wurden!
Wie ist das möglich – in unserem Land… Was ist mit dem Schwur von Buchenwald, den
die KZ-Häftlinge vieler Nationen am 19. April 1945 noch im Konzentrationslager als
Vermächtnis aus den Greueln des Faschismus zogen: „Nie wieder Faschismus – nie
wieder Krieg"?!
Und ich frage mich nach meinen eigenen Wurzeln. Mein Vater lebte als Deutscher in
Polen - in Lodz – friedlich und nachbarschaftlich Haus an Haus mit Juden, Polen und
Russen in einer lebendigen Multikultistadt, - friedlich bis die Nazis kamen. Lodz, das
erste große Judenghetto, - Lodz, die Stadt in der die Vergasungen an Juden erprobt
wurden und der größte Judenfriedhof Europas mit einem Gräberfeld von 40.000 Toten
allein aus dem Lodzscher Ghetto existiert.
Unweit des Friedhofs, am ehemaligen Verladebahnhof Radegast stand ich in der
Ausstellung neben einigen israelischen Jugendlichen…. Ich, als Deutscher, ein Gast in
Lodz - aus dem Land, das den Vorfahren dieser Jugendlichen so viel Leid zugefügt hat.
Jugendliche weiterer Nationen habe ich nicht getroffen. Ich habe versucht mir
vorzustellen, was geschehen würde, wenn eine Gruppe Deutscher Jugendlicher, nun
hier wäre: Vielleicht auch auf Spurensuche, wie ich auf den Spuren meines Vaters oder
die israelischen Jugendlichen auf den Spuren ihrer ermordeten Vorfahren?
Wer von uns wagt es, sich auf die eigene Spurensuche zu begeben?
Müssen wir nicht fürchten, bei der individuellen Spurensuche mit dunklen Seiten unserer
Familiengeschichten konfrontiert zu werden?
 

Kann irgendjemand unter uns wirklich sicher sagen, dass in seiner Familie, seinem
Umfeld niemand um die Verfolgung von Juden, Homosexuellen, Gewerkschaftern oder
sogenannten „Politischen" wusste.
Wer weiß sicher, dass niemand in seiner Familie zu den Tätern gehörte?
Wer weiß um die vertuschten, verheimlichten oder verdrängten Bilder, Erlebnisse und
Geschichten, die die Erinnerungen einzelner Menschen belasten?
Wie hoch ist angesichts der Größenordnung überhaupt die Chance, dass im Umfeld
oder Familie tatsächlich niemand aktiv oder passiv beteiligt war?
Oder umgekehrt formuliert: Was hätte die politische Führung in der Nazizeit überhaupt
von ihren perfiden Ideen ohne die Menschen die schwiegen oder sich gar aktiv
beteiligten tatsächlich umsetzen können?
Und natürlich haben hier an diesem Ort am 09. November 1938, genauer gesagt um 5
Uhr früh am 10.11. viele Heilbronner und Heilbronnerinnen zugeschaut, wie die
Synagoge in Brand gesetzt wurde. Oder beobachteten sie die Plünderungen von
NSDAP-Schergen, die den ganzen 10.11.1938 jüdische Geschäfte und Privateigentum
demolierten? Sie haben geschwiegen oder vielleicht sogar Beifall geklatscht?!
Das System funktionierte: Der Druck – die Angst waren riesig: und so wurden viele zu
Mitwissern und Mittätern… und im Grunde wirkt dieses System bis heute fort.
Nach dem Krieg bemühten sich alle vorwärts zu denken. Nicht zurück blicken…:
Nachkriegs-Deutschland – Aufbauzeit. Da wurden alle gebraucht: Auch die Eliten, die
einst ins Verderben führten fanden in der neuen Gesellschaft ihren Platz: als Lehrer,
Polizisten, in der Gerichtsbarkeit, der Kirche, in Wirtschaft und Gesellschaft.
Da wundert es wenig, dass das gemeinsame Verschweigen, Verdrängen und
Vergessen, die wirkliche Aufarbeitung verhinderten.
Doch nun sterben langsam die Zeitzeugen aus.
Ich bin überzeugt: Alles Geld der Welt kann die Schuld letztendlich nicht tilgen - Wir
müssen gemeinsam aus dem Vergangenen lernen.
Doch ist dies ein sehr schwieriger Lernprozess, den ich hier einfordere, das ist mir wohl
bewusst. Es bedarf großer Ehrlichkeit und Offenheit. - Doch mit Verdrängen und
Vergessen wird dieser notwendige Lernprozess sicherlich nie möglich sein:
Was wir aus den Enthüllungen der letzten Monate lernen, ist neben der Frage nach dem
Funktionieren oder auch Nichtfunktionieren unserer Sicherheitsbehörden, dass unser
Gedenken, wie wir es zum Beispiel mit dieser Veranstaltung alljährlich tun, alleine
offensichtlich nicht ausreicht. Das rechtsradikale Gedankengut ist bis in die bürgerliche
Mitte der Gesellschaft – ist auch in den staatlichen Institutionen lebendiger, als wir es
bisher schon befürchtet haben.
Doch was tun? Ich bin überzeugt, wir brauchen einen „Pädagogischen Plan" - wir
müssen eine gemeinsame, gesellschaftlich anerkannte Haltung in diesen Fragen
erarbeiten. Nicht die Antifaschisten sind die Täter, auch nicht die jungen Antifaschisten
die Naziaufmärsche mit Blockaden verhindern wollen. Täter sind die Nazis, - und
niemand anders! Dies muss gesellschaftlicher Konsens werden, dann wären wir ein
gutes Stück weiter und dies kann nur in einer gemeinsamen Anstrengung geschehen.
Diese Haltung für sich mit zu erarbeiten ist sozusagen das, was wir als Menschen in
diesem Land, denen schuldig sind, die gefoltert, gedemütigt, geschunden und getötet
wurden.
Ich höre nun die Einwände: Aber es gibt doch die Schule, den Unterricht, dort wird die
Zeit und ihre grausame Geschichte, das Schicksal der Menschen bearbeitet: Ich denke,
dass diese Aufgabe nicht alleine dem Schulsystem überlassen werden kann und darf.
Wir müssen uns die Frage stellen, wie unser Bildungssystem, angesichts des
mangelnden gesellschaftlichen Dialogs hier angemessen agieren kann und muss?
Wenn wir Frieden wollen, müssen Menschen, müssen insbesondere junge Menschen,
sich bei internationalen Begegnungen treffen - sich einander annähern: gemeinsame
Antworten finden, andere Kulturen kennen lernen… Das geschieht zuweilen in einigen
wenigen Jugendaustauschen, deren Zahl jedoch gemessen an der Gesamtzahl sehr
gering ist.
Die Bearbeitung und Aufarbeitung von Nazismus, Rassismus und Antisemitismus ist
eine Aufgabe, die wir lange – viel zu lange nicht in ihrer ganzen Dimension gesehen und
daher auch nicht angemessen in Angriff genommen haben.
So wurden zum Beispiel die Orte des Grauens hier in der unmittelbaren Umgebung viel
zu lange einfach negiert, zum Teil die Reste beseitigt um mit den Bildern, die
Erinnerungen auszulöschen: Die Vorstellung, das alles sei weit weg in Auschwitz
geschehen ist leichter zu ertragen, als die Vorstellung, dass in Kochendorf, in
Neckargartach und an unzählig vielen Orten hier Menschen in KZs interniert wurden.
Denn dann kommen auch mit den Orten die Fragen, z.B: Wie kann es sein, dass
Menschen in der Nachbarschaft angeblich nichts davon gewusst haben, wo die
Häftlinge doch jeden Tag vom KZ zum Arbeitsort mitten durchs Dorf laufen mussten? –
Das Konzentrieren der Aufarbeitung auf wenige „beispielhafte" Orte, die zum Synonym
für die Grausamkeiten wurden, wird hier dann manchmal zu einem beachtlichen
Hindernis in der emotionalen Aufarbeitung der Geschehnisse vor Ort. Denn:
Es sind erschütternde - unbequeme Wahrheiten. Doch es ist hier geschehen – vor
unseren Haustüren… - und mehr Menschen als wir denken waren involviert.
Die Frage der gemeinsamen Aufarbeitung unserer Geschichten drängt sich immer mehr
auf:
Da stellt sich die Frage: Wie soll das gehen? Was können wir dazu konkret tun:
Ich denke zum Beispiel an das Hotel Silber in Stuttgart: Dieser Ort wurde für viele
damals zum Schicksalsort: Alle Fäden der gesamten Region Württemberg-
Hohenzollern wurden in der Gestapozentrale zusammengeführt. Hier wurden nicht nur
direkt vor Ort Menschen gefoltert und getötet – sondern auch die gesamten
Entscheidungen für die Aktivitäten der Gestapo und der SS in der Region gefällt und
akribisch aufgelistet, - auch die Transporte in die Gaskammern im Osten der hier
ansässigen Juden.
Nach dem Krieg wurde vieles am Hotel Silber verändert – man versuchte in zahlreichen
Sanierungen die Spuren der Geschichte fast vollständig zu beseitigen. Aber genau aus
diesem Grund ist es meines Erachtens wichtig diesen Ort zu erhalten, als authentischen
Ort des Geschehenen:
Es gab Pläne dort ein Kaufhaus zu errichten, die nun zum Glück - auch durch eine
Vereinbarung im Koalitionsvertrag der neuen Landesregierung - vom Tisch sind.
Wir möchten das Hotel Silber zum Ort des Gedenkens, aber eben auch zum Lernort für
Jugendliche mit pädagogischer Begleitung und aktuellen Bezügen zum Hier und Jetzt
machen:
und ich glaube mehr denn je, dass dies ein wichtiger Beitrag zur Aufarbeitung von
Nazismus und Rassismus sein wird.
Erinnern braucht Orte…. und dass auch an diesem Ort hier versucht wurde die Spuren
der Zeit restlos zu beseitigen ist doch auch ein Teil unserer Geschichte. Ein Zeugnis
unserer Hilflosigkeit im Umgang mit der Vergangenheit!
Heute gedenken wir der brennenden Synagogen - einem der markantesten und
furchtbarsten Punkte der Geschichte in der Zeit des Nationalsozialismus.
Wir gedenken aller Opfer des Naziregimes.
Dabei können wir aber nicht stehenbleiben, denn auch in der Geschichte seit 1945
haben wir erneut Schuld auf uns geladen, indem wir dem Aufflammen der alten Parolen
– den Aktivitäten der Neonazis nicht entschiedener gewehrt haben. Wir haben Schuld
auf uns geladen, indem wir gesamtgesellschaftlich bis dato nicht wirklich begonnen
haben diesen furchtbaren Teil der Geschichte unseres Landes nicht nur zu
dokumentieren, sondern wirklich aufzuarbeiten.
Ein Teil unserer Strategien gegen den Nazismus und Antisemitismus ist unsere
Forderung nach dem Verbot der NPD, der Partei also, welche den geistigen
Brandstiftern und rechten Terroristen finanziell den Nährboden bereitet.
Diese Verbotsforderung finde ich im übrigen äußerst demokratisch, denn es kann nicht
sein, dass diejenigen welche die Demokratie mit Rassismus abschaffen wollen den
Schutz derselben genießen, - denn Faschismus ist einfach keine demokratische
Meinung, es ist ein schlimmes System und ganz einfach gesagt, ein rechtsstaatlich zu
verfolgendes Verbrechen. Ich hoffe, dass sich diese Erkenntnis endlich durchsetzt!
Liebe Friedensfreundinnen und Freunde,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
Wir müssen uns gegen das Vergessen stellen und müssen uns gegen das Verdrängen
und verharmlosen wehren. Jeder mit seiner Kraft und seinen Möglichkeiten!
Dazu kann diese Gedenkstunde neu mahnen: Wachsam zu sein und nicht zu
schweigen!
Dazu wünsche ich uns allen Erfolg, Mut und Kraft!
DANKE!

An dieser Stelle nun der Hinweis auf eine Folgeveranstaltung im warmen
Gewerkschaftshaus. Dort werden die MARBACHER ihre neue CD „Hier nicht dort –
Lieder gegen das Vergessen!" vortragen und das mit allen Gastmusikern die an der
Produktion mitgewirkt haben, also ein besonderes und seltenes Konzert. Die
MARBACHER versuchen mit ihren Liedern gegen das Vergessen anzusingen und für
ein Stück Aufklärung zu sorgen.
Es würde mich freuen, wenn noch viele von Ihnen / von Euch uns nach dieser
Veranstaltung ins Gewerkschaftshaus begleiten würden

(es gilt das gesprochene Wort)