Ansprache zur Gedenkfeier am 9. November 2009
am Synagogengedenkstein in der Allee in Heilbronn
 
 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,

an dem Ort, an dem einst die Heilbronner Synagoge stand und heute nur noch ein Gedenkstein daran erinnert und das Korten - Stahl - Erinnerungszeichen der Synagogenkuppel von Bettina Bürkle, an diesem geschichtsträchtigen Ort haben wir uns versammelt aus Anlass der Pogromnacht vom 9. November.
Und dieser 9. November ist für uns Deutsche kein Tag wie jeder andere, es ist ein Tag an dem sich durch die Geschichte immer wieder dramatische, historische Veränderungen vollzogen haben.

An drei gravierende will ich erinnern:
Da ist der 9. November 1918. Es ist das 4. Jahr des ersten Weltkriegs. Die absehbare Niederlage des Deutschen Reiches ist offensichtlich. Es gibt Aufstände von Soldaten und Arbeitern zuerst in Wilhelmshaven, dann in München und Berlin. Der deutsche Kaiser Wilhelm der II. wird zum Rücktritt gezwungen. In Berlin wird die Republik ausgerufen. Eine Zeit des Blutvergießens geht zu Ende.  Auch eine Zeit der alten Monarchien, der Könige und Fürsten.
Viel Hoffnung auf einen Neuanfang ist da auf gerechtere Lebensverhältnisse für Menschen aller gesellschaftlichen Schichten. Die erste Deutsche Republik wird ausgerufen.

Dann der schicksalsträchtige 9. November 1938.
Klirrende Scheiben in den Straßen. Jüdische Geschäfte werden geplündert. Jüdische Bürger werden aus ihren Wohnungen getrieben, viele verhaftet. Jüdische Synagogen brennen – auch hier in Heilbronn.
Reichskristallnacht – so hieß das.
Das nationalsozialistische Regime unter dem Reichskanzler Adolf Hitler zeigte sein wahres Gesicht. Vielen hatten in den Jahren zuvor noch auf einen glanzvollen Aufstieg Deutschlands gehofft.
Auch Christinnen und Christen hatten Gott für die Vorsehung gedankt, die ihnen diesen Führer geschenkt hatte. Doch allmählich begann ein entsetzliches Erwachen, das für die meisten in den Ruinen ihrer zerbombten Häuser endete.
Und dann der 9. November 1989. Perestroika in der Sowjetunion. Massenflucht von DDR-Bürgern in bundesdeutsche Botschaften in Osteuropa. Friedensgebete und Montagsdemonstrationen in der DDR und dann der Fall der Mauer, die Ost- und Westdeutschland fast 30 Jahre getrennt hatte.
Freudentränen, Jubel, große Hoffnungen auf „blühende Landschaften“. Und dann, über die Jahre, immer mehr Ernüchterung zwischen den Besser-Wessi`s und den Ostalgikern und den Folgekosten, die kaum bezahlbar scheinen.

Der 9. November – für uns Deutsche jedenfalls kein Tag wie jeder andere.

Aber der 9. November 1938 ist in der Dimension seiner Folgen einmalig:
Weil in ganz Deutschland die Synagogen geschändet und angezündet wurden, jüdische Geschäfte geplündert und Wohnhäuser demoliert wur-den. Weil jüdische Mitbürger ermordet wurden – 10.000 in Konzentrations-lager verschleppt und diese Pogrome den Auftakt bildeten zu einer grausamen Verfolgung der Juden in unserem Land mit dem Ziel der Vernichtung des ganzen jüdischen Volkes. Ihre schreckliche Bilanz ist die Ermordung von 6 Mio. in ganz Europa.
Es ist das bleibende Verdienst von Hans Franke, der 1963 das Buch „Geschichte und Schicksal der Juden in Heilbronn“ veröffentlichte, dass das ganze Ausmaß des Schreckens festgehalten ist: „Von den 855 Juden, die 1933 in HN und Sontheim gezählt wurden, sind 225 den Verfolgungen zum Opfer gefallen. Diese jüdischen Mitbürger waren Menschen wie du und ich, Menschen aus Gottes Hand, von den nämlichen Schwächen, Vorzügen, Leidenschaften und Glücksgefühlen beseelt, bestrebt …Anteil an der deutschen Kultur zu besitzen und vor allem: zuleben! Hierin liegt die unerbittliche Tragik.“
Daran denken wir heute zurück, betroffen von dem, was damals am 9. November 1938 und in den folgenden Jahren geschehen ist. Und wir tun dies mit großem Entsetzen und tiefer Scham.
Und doch gibt es auch die vielen, die diese Gedenkfeiern ablehnen, die sagen: „das ist lange her“ und damit meinen, man solle die Vergangenheit gefälligst ruhen lassen. Sie sagen: „damit haben wir doch nichts mehr zu tun, wir sind doch eine andere Generation. Wir lassen uns doch für nichts verantwortlich machen, was wir nicht getan haben.“
Aber so einfach ist das nicht, denn Geschichte lässt sich nicht einfach übertünchen oder vergessen. Vergangenheit holt einen immer wieder ein. Und die Spuren jüdischer Mitbürger begegnen uns immer noch: Als ich im letzten Jahr ins Dekanat in der Wilhelmstrasse eingezogen bin, habe ich die Kopie eines Berichtes erhalten, der beschrieb, dass in diesem Haus bis 1937 im ersten Stock eine jüdische Familie gewohnt hat, eine Familie die wohl ausgewandert ist und deren Spuren sich im Dunkeln verlieren. Und ein paar Monate später traf ich die Pfarrerskinder, die den Angriff des 4. Dezember in diesem Haus überlebt haben. Die, als die Kerzen im tiefen Keller erlöschten, noch schnell dem Feuersturm auf die andere Straßenseite der Wilhelmstraße entfliehen konnten. Und sie haben das geschildert, so, als ob es gestern gewesen sei. Was ich damit sagen will: Geschichte lässt sich nicht vergessen, lässt sich letztendlich nicht verschweigen. Vergangenheit holt einen immer wieder ein.

Der frühere Bundespräsident Richard von Weizsäcker hat es einmal so gesagt: „Wir alle, ob schuldig oder nicht, ob Alt oder Jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen.“ Wenn wir die Vergangenheit verdrängen, mit strahlenden Farben übertünchen, wird sie immer wieder hervorbrechen und wie ein Menetekel an den Wänden unserer Gegenwart stehen. Wir müssen uns erinnern und von daher für eine bessere Gegenwart einstehen. Zu recht hat Elli Wiesel gesagt: „Erinnerung ist das Geheimnis der Versöhnung“.
Und gerade in einer Zeit, in der antisemitische Töne nicht verstummen und braunes Gedankengut vor allem bei Jugendlichen wieder hoffähig wird, darf die Erinnerung nicht aufhören.
Auch wenn sich jüdisches Leben in Deutschland und auch hier in Heilbronn wieder zeigt. Wenn Heilbronner Juden sich in unserer Stadt wieder in einer Synagoge versammeln können und ihren Glauben leben, auch wenn es einen christlich-jüdischen Arbeitskreis gibt und Begegnungen untereinander, so scheint mir dieses jüdische Leben immer noch bedroht. Und da reicht es dann auch nicht wenn wir uns Denkmäler, wenn wir uns Gedenksteine bauen und uns einmal im Jahr dort versammeln. Nein, mit einem Gedenkstein und mit einem Kunstwerk ist die Last der Geschichte noch nicht bewältigt. Es kommt vielmehr darauf an, heute verantwortlicher zu leben und nicht die Fehler der Väter und Mütter zu wiederholen. Es ist gut, dass wir heute hier am Denkmal zusammen gekommen sind. Es ist gut, der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger und all ihres Leides zu gedenken. Es gut, die Geschichte nicht zu verdrängen, sondern sich ihr zu stellen. Doch all das reicht nicht aus. Unser Gedenken muss sich bewähren in unserem Denken und Handeln heute und morgen.
Und ein erster Schritt dazu – und hier spreche ich zu ihnen als Vertreter der evangelischen Kirche – ist unsere Möglichkeit Schuld einzugestehen und Schuld zu vergeben.
Viele Menschen beten ja: Vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und ich denke die Möglichkeit Schuld einzugestehen und Schuld zu vergeben ist kein unter den Teppich kehren, sondern eine Hinwendung schuldig gewordener Menschen zu Gott, von dem wir glauben, dass er uns gnädig bleiben will.
Die Angst, Schuld einzugestehen, kann nur überwunden werden, wenn wir glauben können, dass Gott dennoch zu uns steht, trotz unserer Schuld. Dann müssen wir uns nicht mehr rechtfertigen mit irgendwelchen Argumenten. Dann können wir den Mut aufbringen und den Fakten „ins Auge sehen“, nicht zu verschwiegen und nicht zu vergessen. Darin wäre Hoffnung verborgen für die Zukunft, dass wir trotz aller schuldhafter Vergangenheit ein Recht und eine Pflicht behalten, das Leben miteinander in Frieden zu gestalten.
Dazu helfe uns Gott und dazu können wir uns gegenseitig verhelfen.

Otto Friedrich, Dekan Evangelischer Kirchenbezirk Heilbronn

(es gilt das gesprochene Wort)