Meine sehr verehrten Damen und Herren,
liebe Freundinnen und Freunde,
an dem Ort, an dem einst die Heilbronner
Synagoge stand und heute nur noch ein Gedenkstein daran erinnert und das
Korten - Stahl - Erinnerungszeichen der Synagogenkuppel von Bettina Bürkle,
an diesem geschichtsträchtigen Ort haben wir uns versammelt aus Anlass
der Pogromnacht vom 9. November.
Und dieser 9. November ist für
uns Deutsche kein Tag wie jeder andere, es ist ein Tag an dem sich durch
die Geschichte immer wieder dramatische, historische Veränderungen
vollzogen haben.
An drei gravierende will ich erinnern:
Da ist der 9. November 1918. Es
ist das 4. Jahr des ersten Weltkriegs. Die absehbare Niederlage des Deutschen
Reiches ist offensichtlich. Es gibt Aufstände von Soldaten und Arbeitern
zuerst in Wilhelmshaven, dann in München und Berlin. Der deutsche
Kaiser Wilhelm der II. wird zum Rücktritt gezwungen. In Berlin wird
die Republik ausgerufen. Eine Zeit des Blutvergießens geht zu Ende.
Auch eine Zeit der alten Monarchien, der Könige und Fürsten.
Viel Hoffnung auf einen Neuanfang
ist da auf gerechtere Lebensverhältnisse für Menschen aller gesellschaftlichen
Schichten. Die erste Deutsche Republik wird ausgerufen.
Dann der schicksalsträchtige
9. November 1938.
Klirrende Scheiben in den Straßen.
Jüdische Geschäfte werden geplündert. Jüdische Bürger
werden aus ihren Wohnungen getrieben, viele verhaftet. Jüdische Synagogen
brennen – auch hier in Heilbronn.
Reichskristallnacht – so hieß
das.
Das nationalsozialistische Regime
unter dem Reichskanzler Adolf Hitler zeigte sein wahres Gesicht. Vielen
hatten in den Jahren zuvor noch auf einen glanzvollen Aufstieg Deutschlands
gehofft.
Auch Christinnen und Christen hatten
Gott für die Vorsehung gedankt, die ihnen diesen Führer geschenkt
hatte. Doch allmählich begann ein entsetzliches Erwachen, das für
die meisten in den Ruinen ihrer zerbombten Häuser endete.
Und dann der 9. November 1989. Perestroika
in der Sowjetunion. Massenflucht von DDR-Bürgern in bundesdeutsche
Botschaften in Osteuropa. Friedensgebete und Montagsdemonstrationen in
der DDR und dann der Fall der Mauer, die Ost- und Westdeutschland fast
30 Jahre getrennt hatte.
Freudentränen, Jubel, große
Hoffnungen auf „blühende Landschaften“. Und dann, über die Jahre,
immer mehr Ernüchterung zwischen den Besser-Wessi`s und den Ostalgikern
und den Folgekosten, die kaum bezahlbar scheinen.
Der 9. November – für uns Deutsche jedenfalls kein Tag wie jeder andere.
Aber der 9. November 1938 ist in
der Dimension seiner Folgen einmalig:
Weil in ganz Deutschland die Synagogen
geschändet und angezündet wurden, jüdische Geschäfte
geplündert und Wohnhäuser demoliert wur-den. Weil jüdische
Mitbürger ermordet wurden – 10.000 in Konzentrations-lager verschleppt
und diese Pogrome den Auftakt bildeten zu einer grausamen Verfolgung der
Juden in unserem Land mit dem Ziel der Vernichtung des ganzen jüdischen
Volkes. Ihre schreckliche Bilanz ist die Ermordung von 6 Mio. in ganz Europa.
Es ist das bleibende Verdienst von
Hans Franke, der 1963 das Buch „Geschichte und Schicksal der Juden in Heilbronn“
veröffentlichte, dass das ganze Ausmaß des Schreckens festgehalten
ist: „Von den 855 Juden, die 1933 in HN und Sontheim gezählt wurden,
sind 225 den Verfolgungen zum Opfer gefallen. Diese jüdischen Mitbürger
waren Menschen wie du und ich, Menschen aus Gottes Hand, von den nämlichen
Schwächen, Vorzügen, Leidenschaften und Glücksgefühlen
beseelt, bestrebt …Anteil an der deutschen Kultur zu besitzen und vor allem:
zuleben! Hierin liegt die unerbittliche Tragik.“
Daran denken wir heute zurück,
betroffen von dem, was damals am 9. November 1938 und in den folgenden
Jahren geschehen ist. Und wir tun dies mit großem Entsetzen und tiefer
Scham.
Und doch gibt es auch die vielen,
die diese Gedenkfeiern ablehnen, die sagen: „das ist lange her“ und damit
meinen, man solle die Vergangenheit gefälligst ruhen lassen. Sie sagen:
„damit haben wir doch nichts mehr zu tun, wir sind doch eine andere Generation.
Wir lassen uns doch für nichts verantwortlich machen, was wir nicht
getan haben.“
Aber so einfach ist das nicht, denn
Geschichte lässt sich nicht einfach übertünchen oder vergessen.
Vergangenheit holt einen immer wieder ein. Und die Spuren jüdischer
Mitbürger begegnen uns immer noch: Als ich im letzten Jahr ins Dekanat
in der Wilhelmstrasse eingezogen bin, habe ich die Kopie eines Berichtes
erhalten, der beschrieb, dass in diesem Haus bis 1937 im ersten Stock eine
jüdische Familie gewohnt hat, eine Familie die wohl ausgewandert ist
und deren Spuren sich im Dunkeln verlieren. Und ein paar Monate später
traf ich die Pfarrerskinder, die den Angriff des 4. Dezember in diesem
Haus überlebt haben. Die, als die Kerzen im tiefen Keller erlöschten,
noch schnell dem Feuersturm auf die andere Straßenseite der Wilhelmstraße
entfliehen konnten. Und sie haben das geschildert, so, als ob es gestern
gewesen sei. Was ich damit sagen will: Geschichte lässt sich nicht
vergessen, lässt sich letztendlich nicht verschweigen. Vergangenheit
holt einen immer wieder ein.
Der frühere Bundespräsident
Richard von Weizsäcker hat es einmal so gesagt: „Wir alle, ob schuldig
oder nicht, ob Alt oder Jung, müssen die Vergangenheit annehmen. Wir
alle sind von ihren Folgen betroffen und für sie in Haftung genommen.“
Wenn wir die Vergangenheit verdrängen, mit strahlenden Farben übertünchen,
wird sie immer wieder hervorbrechen und wie ein Menetekel an den Wänden
unserer Gegenwart stehen. Wir müssen uns erinnern und von daher für
eine bessere Gegenwart einstehen. Zu recht hat Elli Wiesel gesagt: „Erinnerung
ist das Geheimnis der Versöhnung“.
Und gerade in einer Zeit, in der
antisemitische Töne nicht verstummen und braunes Gedankengut vor allem
bei Jugendlichen wieder hoffähig wird, darf die Erinnerung nicht aufhören.
Auch wenn sich jüdisches Leben
in Deutschland und auch hier in Heilbronn wieder zeigt. Wenn Heilbronner
Juden sich in unserer Stadt wieder in einer Synagoge versammeln können
und ihren Glauben leben, auch wenn es einen christlich-jüdischen Arbeitskreis
gibt und Begegnungen untereinander, so scheint mir dieses jüdische
Leben immer noch bedroht. Und da reicht es dann auch nicht wenn wir uns
Denkmäler, wenn wir uns Gedenksteine bauen und uns einmal im Jahr
dort versammeln. Nein, mit einem Gedenkstein und mit einem Kunstwerk ist
die Last der Geschichte noch nicht bewältigt. Es kommt vielmehr darauf
an, heute verantwortlicher zu leben und nicht die Fehler der Väter
und Mütter zu wiederholen. Es ist gut, dass wir heute hier am Denkmal
zusammen gekommen sind. Es ist gut, der jüdischen Mitbürgerinnen
und Mitbürger und all ihres Leides zu gedenken. Es gut, die Geschichte
nicht zu verdrängen, sondern sich ihr zu stellen. Doch all das reicht
nicht aus. Unser Gedenken muss sich bewähren in unserem Denken und
Handeln heute und morgen.
Und ein erster Schritt dazu – und
hier spreche ich zu ihnen als Vertreter der evangelischen Kirche – ist
unsere Möglichkeit Schuld einzugestehen und Schuld zu vergeben.
Viele Menschen beten ja: Vergib
uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unsern Schuldigern. Und ich denke
die Möglichkeit Schuld einzugestehen und Schuld zu vergeben ist kein
unter den Teppich kehren, sondern eine Hinwendung schuldig gewordener Menschen
zu Gott, von dem wir glauben, dass er uns gnädig bleiben will.
Die Angst, Schuld einzugestehen,
kann nur überwunden werden, wenn wir glauben können, dass Gott
dennoch zu uns steht, trotz unserer Schuld. Dann müssen wir uns nicht
mehr rechtfertigen mit irgendwelchen Argumenten. Dann können wir den
Mut aufbringen und den Fakten „ins Auge sehen“, nicht zu verschwiegen und
nicht zu vergessen. Darin wäre Hoffnung verborgen für die Zukunft,
dass wir trotz aller schuldhafter Vergangenheit ein Recht und eine Pflicht
behalten, das Leben miteinander in Frieden zu gestalten.
Dazu helfe uns Gott und dazu können
wir uns gegenseitig verhelfen.
Otto Friedrich, Dekan Evangelischer Kirchenbezirk Heilbronn
(es gilt das gesprochene Wort)