Peter Hawighorst, Leiter der VHS Heilbronn

Gedenkrede zum 9. November 2010, Synagogengedenkstein

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

es gibt wohl kein anderes Datum, keinen anderen Gedenktag in der deutschen Geschichte, der in uns so zwiespältige Gefühle auslöst wie der 9. November. Auf der einen Seite haben wir alle den 9. November 1989 vor Augen, den Tag, an dem die unsägliche Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland zu Fall kam. Vor wenigen Wochen erst haben wir – als direkte Folge dieser Ereignisse – den 20. Jahrestag der Deutschen Wiedervereinigung feiern können.

Auf der anderen Seite ist dieser 9. November eben auch mit einem der dunkelsten Kapitel der deutschen Geschichte verbunden. Denn am 9. und 10. November 1938 fielen in ganz Deutschland jüdische Synagogen dem Raub der Flammen zum Opfer. Die „Kristallnacht“ heute vor 72 Jahren wurde zum dramatischen Wendepunkt für das Schicksal der Juden in Deutschland. Ging es den Nationalsozialisten in den Jahren davor in der Hauptsache um Diskriminierung und Ausgrenzung der jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, so wurden mit den Ereignissen im November 1938 letzte ethische Grenzen endgültig überschritten. Die Deportation der deutschen Juden geschah fortan nicht nur in aller Öffentlichkeit, sondern sogar auf der Basis von Gesetzen und Verordnungen.

Der Blick in die Heilbronner Stadtgeschichte macht deutlich, dass sich die schrecklichen Ereignisse der Reichspogromnacht nicht nur in der fernen Reichshauptstadt Berlin abspielten, sondern auch bei uns. Auch hier in Heilbronn brannte in der Nacht vom 9. auf den 10. November – direkt an dem Platz an dem wir jetzt stehen - die Synagoge. Und in der darauffolgenden Nacht waren zahlreiche Ausschreitungen gegen die Juden in der Stadt zu beklagen. Jüdische Läden und Wohnungen wurden von Schlägertrupps der Nazis demoliert, ihre Zerstörungswut ließ ein wahres Trümmerfeld zurück. Und am darauffolgenden Morgen bot sich den Menschen ein Bild von mit Glasscherben übersäten Straßen und zerstörten Schaufenstern. Es wird deutlich, dass auch hier in Heilbronn Menschen ausgegrenzt, verfolgt,  vertrieben und misshandelt wurden - und ins Verderben gehen mussten. Dass auch hier der Rassismus der Nationalsozialisten seine Anhänger hatte und seine Erfüllungsgehilfen fand.

Greifbar und konkret kann man das unfassbare Geschehen nur machen, wenn man dem Lebens- und Leidensweg des Einzelnen folgt. In dem Buch „Geschichte und Schicksal der Juden in Heilbronn“ von Hans Franke findet sich beispielsweise der Lebensweg von Dr. Oskar Moos, der sich in der Fleiner Straße als praktischer Arzt niedergelassen hatte. Er schreibt:

 „Unser ganzes Leben veränderte sich durch die Machtübernahme Hitlers. Alles, was wir mit Liebe und Fleiß aufgebaut hatten, wurde vernichtet! Wir mussten unsere seit 25 Jahren innegehabte Wohnung verlassen, die Praxis wurde nach Inkrafttreten der betreffenden Gesetze durch das Nazi-Regime verboten. …… Wir zogen in die Weststraße 53 mit dem Schild an der Tür: „Berechtigt ausschließlich zur Behandlung von Juden“.  Nach der Kristallnacht vom 10. November 1938 entschlossen wir uns, Deutschland zu verlassen und Zuflucht bei unseren Kindern in Holland zu suchen. Das alles ging gut, bis die Deutschen nach Holland kamen, wir mussten aus Scheveningen fort. Durch gute Freunde kamen wir nach Bitthoven. Unsere Schwester Alice, die später nach Auschwitz deportiert wurde, und ihre Kinder, die in Bergen-Belsen umkamen, waren oft unsere Gäste. Doch bald schlug auch dort für uns die Abschiedsstunde. Wir erhielten die Aufforderung, nach Amsterdam zu kommen. Und am 26. Februar 1943 wurden wir von der Gestapo abgeholt und am folgenden Morgen ins KZ Westerbork gebracht.

Im Januar 1944 ging die unselige Wanderschaft weiter. Wir kamen zusammen mit unserem Sohn Hans und vielen anderen Juden nach Theresienstadt, einem Garnisonstädtchen in Böhmen. Hier wurde uns vom Lagerleiter versichert, dass wir bis zur Beendigung des Krieges bleiben könnten. Alles, was von einigem Wert war, wurde uns abgenommen, unser Gepäck wurde durchsucht und herausgenommen, was die Gestapo gebrauchen konnte. Im Mai 1944 ging ein großer Transport – trotz aller Versprechungen – nach Auschwitz ab. Es folgten diesem Transport noch weitere, und im September 1944 musste uns auch unser Sohn Hans verlassen. Er kam im Februar 1945 in der Hölle von Auschwitz ums Leben. Unser Sohn Kurt verließ bereits im August 1940 mit Frau und Kind sein Heim in Rotterdam und wollte in die Schweiz, wurde aber an der Grenze von der Gestapo gefasst; sie wurden mit einem großen Transport nach Auschwitz verbracht. Wir sahen ihn und seine Frau nie wieder, allein unsere Enkelin Yvonne ist noch am Leben. Die Eltern ließen sie in Besancon in einem Hospital bei Nonnen zurück, die sie an eine kinderlose französische Familie übergaben, die das Kind mit aller Liebe und Fürsorge erzog. Wir, d. h. meine Frau und ich, wurden im Mai 1945 von Russen und Franzosen befreit und kamen wieder nach Holland zurück“.

Soweit die Erinnerungen von Oskar Moos, der – wie gesagt – bis zur Kristallnacht in Heilbronn gewohnt hat.

Wir fragen uns angesichts solcher Schilderungen: Kann man das unsägliche Leid, kann man die unzähligen Toten überhaupt ermessen? Den Verlust von Heimat und die entgangenen Lebenschancen für die, die sich noch rechtzeitig ins Ausland retten konnten? Und: welches sind die Verpflichtungen, die uns allen, die wir in unserem Land seit nunmehr 67 Jahren in Frieden leben dürfen, aus diesem dunkelsten Kapitel deutscher Geschichte erwachsen?

Nun, ich meine: eine wichtige Aufgabe ist es, weiterhin dafür zu sorgen, dass die Erinnerung an den 9. + 10. November 1938 wach gehalten wird, dies ist schon allein deshalb von Bedeutung, da die Zahl der Menschen, die diese grausamen Ereignisse miterlebt haben, immer kleiner wird; erst heute konnten wir alle in der Heilbronner Stimme lesen, dass es offenbar immer wieder Menschen gibt, die dazu neigen, diese furchtbaren Ereignisse zu verharmlosen oder gar zu verklären.

Wenn wir heute der Opfer des nationalsozialistischen Rassenwahns gedenken, ist das für uns gleichsam eine Verpflichtung. Eine Verpflichtung, dass wir die Courage haben müssen, uns öffentlich und nachhaltig für Toleranz in unserer Gesellschaft einzusetzen. Gerade auch gegenüber Menschen, die eine fremde Sprache sprechen, eine andere Kultur pflegen oder einer anderen Religion angehören. Unserer ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger zu gedenken heißt, dass wir Mut beweisen müssen wenn es darum geht, Minderheiten zu verteidigen.

Der Opfer des NS-Terrors zu gedenken, heißt in letzter Konsequenz auch, dass wir als Gesellschaft Menschen Zuflucht und Schutz gewähren, wenn wir sehen, dass Andersdenkende und Andersgläubige diskriminiert und verfolgt werden.

Und wir sind weiterhin gefordert, zu den jüdische Mitbürgerinnen und Mitbürgern in unserer Stadt Brücken zu bauen, so wie es der Förderverein der Synagoge Heilbronn e. V. tut. Es ist für unsere Stadt eine Bereicherung, dass es in Heilbronn – nicht weit von hier -  seit einigen Jahren wieder jüdisches Gemeindeleben gibt. Der damalige Prälat Paul Dietrich nannte die Wiedererrichtung der jüdischen Gemeinderäume an der Allee im Jahr 2006 „einen Meilenstein für den inneren Wiederaufbau Heilbronns“.
 

Sehr geehrte Damen und Herren!

Dieser Tag des Erinnerns muss zu einem „Tag gegen das Vergessen“ werden. Lassen Sie mich einige Beispiele nennen, wie dieses Erinnern in die Zukunft wirken kann:

1. Auch in unserem Land und in unserer Stadt gibt es Minderheiten; sie müssen eine aufrichtige Chance auf Integration bekommen. Und es ist unsere Aufgabe, als Staat und Gesellschaft aktiv daran mitwirken – denn Integration ist keine Einbahnstraße. Übrigens: Bildung ist ein wichtiger Schlüssel für das Gelingen von Integration. Zu Recht arbeiten wir in Heilbronn in diesem Feld besonders intensiv.

2. Wir sind gefordert, gegen solche Stimmen aufzustehen, die in sprachlich unverantwortlicher Weise andere ausgrenzen. Härte in der Sprache spiegelt oft auch Härte in menschlichen Fragen, ja menschliche Defizite wider. Bei den Nationalsozialisten – daran müssen wir erinnern  - ging sprachliche Gewalt der tatsächlichen Gewalt voraus.

3. Es ist unsere Aufgabe, uns weiter mit Nachdruck für ein Miteinander unterschiedlicher Kulturen einzusetzen. Und für Menschlichkeit über die Grenzen der Kulturen und auch Religionen hinweg. Wir dürfen dankbar konstatieren, dass wir in unserer Stadt, in der Menschen aus über 130 Nationen friedlich zusammen leben, auf gutem Wege sind.

4. Es ist unsere Pflicht, dass wir uns in einer globaler werdenden Welt für ein friedliches Zusammenleben unterschiedlicher Nationen einsetzen, so wie es beispielsweise  bei der Pflege von Städtepartnerschaften und beim internationalen Schüleraustausch geschieht.

5. Nur wer weiß, was geschah, weiß auch, was wieder geschehen kann. Und wer meint, dass so etwas nie wieder geschehen kann, der ignoriert, dass auch in der heutigen Zeit nie für möglich gehaltene Dinge passieren.

Erst im letzten und vorletzten Jahr standen wir am Rande eines globalen wirtschaftlichen Abgrundes. Eigentlich alle Sicherungssysteme hatten versagt.  Die globale Finanzkrise 2008 wird von Fachleuten in einem Atemzug mit der Krise von 1929 gehandelt, die indirekt den Nazis zur Macht verholfen hat. Wirtschaftlichen Abgründen können menschliche Abgründe folgen. Wer sagt denn, dass nie wieder moralisch-ehtische Dämme brechen können? Unsere Aufgabe muss es sein, dieses zu erkennen und den Anfängen entschieden entgegenzutreten.

Deswegen gilt für uns: Der heutige Tag ist nicht nur ein Tag des Mitgefühls, der Trauer und der Scham. Es ist auch ein Tag der Reflexion über menschliche Abgründe und ein Tag der Aufforderung zu vorbeugendem und menschlichem Handeln.

Ich bin zutiefst davon überzeugt: Gedenken hilft erkennen! Bleiben wir wachsam! Unmenschlichkeit wird immer von Menschen ganz konkret begangen. So war es damals auch bei uns in Heilbronn.  Auch unsere Stadt war Teil eines unmenschlichen Geschehens, das dazu geführt hat, dass von den 855 Juden, die 1933 in Heilbronn und Sontheim gezählt wurden, 240 den Verfolgungen zum Opfer gefallen sind und den Weg ins Verderben gehen mussten. Vergessen dürfen wir auch nicht die über 600 unserer jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger, die gezwungen wurden, ihre Heimat zu verlassen und mit geringen Mitteln in der Fremde neue Existenzen zu gründen.

Der jüdische Dichter Paul Celan schreibt in seinem Gedicht „Todesfuge“, das Weltruhm erlangt hat und mit dem er die nationalsozialistische Judenvernichtung thematisiert:

„Schwarze Milch der Frühe, wir trinken dich nachts,
wir trinken dich mittags und morgens – wir trinken dich abends,
wir trinken und trinken
ein Mann wohnt im Haus - dein goldenes Haar Margarete,
dein aschenes Haar Sulamith – er spielt mit den Schlangen
Er ruft: „Spielt süßer den Tod, der Tod ist ein Meister aus Deutschland“
Er ruft: „Streicht dunkler die Geigen, dann steigt ihr als Rauch in die Luft,
dann habt ihr ein Grab in den Wolken, da liegt man nicht eng“.
 

Meine sehr verehrten Damen und Herren,

Wir gedenken heute des Schicksals der ehemaligen jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger in unserer Stadt und wir gedenken der Ermordung von über 6 Mio. Menschen jüdischen Glaubens weltweit.

Jedes einzelne Schicksal ist ein Klageruf – aber auch ein Aufruf an uns, wachsam an einer menschlichen Zukunft mitzuwirken. Ein Aufruf an jeden von uns: „Niemals wieder!“

Ich danke Ihnen!

(es gilt das gesprochene Wort)