Liebe Frau Toren,
sehr geehrte Mitglieder der jüdischen Gemeinde,
lieber Herr Oberbürgermeister Mergel,
liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger,
zwei Bilder stehen mir vor Augen, wenn wir uns hier einfinden zum Gedenken wider das Vergessen, was am 9. November 1938 an dieser Stelle geschehen ist. Dieses Mahnmal der zerstörten Synagoge, und das Modell der zerstörten Stadt in der Ehrenhalle des Rathauses.
Dieselbe Gewalt, die die Synagoge und danach die jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürger vernichtet hat, zerstörte am Ende alle und alles in der Stadt. Dahinter steckt ein Mechanismus, der vom einen zum anderen führt. Um sich selbst zu schützen, haben Mitbürgerinnen und Mitbürger sich nach dem 9. November 1938 nicht solidarisiert. Sie haben damit ein Unheil verstärkt, das sie am Ende selbst viel, manchmal sogar alles gekostet hat.
Warum auch immer die Deutschen 1933 den Nationalsozialisten zur Macht verhalfen, Wirtschaftskrise und Massenarbeitslosigkeit, Gekränktsein nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg und Uneinigkeit der demokratischen Parteien, sie ignorierten die menschenverachtende Ideologie der Nationalsozialisten, um wieder geordnete Verhältnisse im Staat zu bekommen.
Hinter der Ignoranz stand aber die Angst. Die Angst des einzelnen vor weiterer Arbeitslosigkeit und Verarmung, Angst um das Eigene, das man absichern wollte, Angst sich allein gegen die herrschende Meinung zu stellen. Etwas zugegebenermaßen zu kurz formuliert könnte man sagen, man wollte die eigene Haut retten, indem man zum Machtwahn der NSDAP schwieg.
Ich will und kann als Nachgeborener darüber nicht urteilen. Doch scheinen mir vom verheerenden Ende her darin drei Botschaften für unsere heutige politische Situation zu liegen.
In der rasanten Veränderung unseres Zusammenlebens ist es im persönlichen Bereich genauso wie im politischen gefährlich, wenn Angst nicht ins Wort kommen kann. Wie viel unausgesprochene Angst gibt es manchmal selbst unter Menschen, die sich lieben! Doch wie groß und erleichternd ist die Befreiung, wenn sich einer traut. Wie schwer tun sich Heranwachsende zu äußern, was sie bewegt! Wie viel Entschlossenheit kostet es am Arbeitsplatz oder in sogenannten Freundeskreisen den anderen zu gestehen „Ich pack’s nicht mehr“.
Es ist nicht leicht, über Ängste zu sprechen. Dazu braucht es Mut. Zudem schämt man sich, Angst einzugestehen, denn der moderne Mensch hat alles im Griff zu haben. Statt cool zu scheinen, braucht es Courage. Wenn wir es lernen, kann eine kraftvolle Solidarität entstehen, die uns hilft, alle Dinge dieser Welt, so wie sie sind, nüchtern anzuschauen.
Stellen wir uns vor, es müsste jemand am Arbeitsplatz nicht in Empörung über die Flüchtlinge sprechen. Statt „Wo kommen wir da hin, wenn alle zu uns kommen“, könnte sich jemand trauen, sich und anderen einzugestehen, wie sehr er oder sie Angst haben, das bisher Gewohnte und Abgesicherte zu verlieren. Das wäre konstruktiv. Daran könnte man anknüpfen und weitersprechen.
Das Zweite ist die Ignoranz. Eindrücklich wies Navid Kermani, der diesjährige Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in seiner Rede in der Paulskirche darauf hin, wie der Westen einmal mehr schuldig wurde, indem er den Bürgerkrieg in Syrien ignorierte. Unsere Welt ist komplex und unübersichtlich geworden. Wenn in Ägypten ein russisches Flugzeug abstürzt, erfahren wir es in den Nachrichten zur nächsten vollen Stunde. Wirtschaftsunternehmen sind international verflochten. Die Informationstechnik ist globalisiert und lässt sich nicht eindämmen. Ohne sich der Mühe des Verstehens zu unterziehen, ohne uns zu allem und jedem zu verhalten, schaffen wir mehr Probleme als wir durch unser Abschotten lösen. Damit sind wir natürlich überfordert. Das ist die Kehrseite der Informationsgesellschaft. Auch wenn uns nichts anderes übrig bleibt, als uns in den meisten Fragen auf Experten zu verlassen, können wir uns unserer Verantwortung nicht entziehen. Das ist ein Dilemma.
Aus ihm führt meiner Meinung nach ein Drittes, das aus dieser Stunde des Erinnerns bedeutsam werden könnte. Es ist die Notwendigkeit des Glaubens an Gott. Wenn ich Gott sage, meine ich damit Adonai, Allah und den Gott Jesu Christi. Es fällt auf, wie der Glaube an Gott immer mehr in die Privatsphäre geschoben wird. Wir fürchten ja nicht nur um unsere christlich-abendländische Kultur, wenn muslimische Mitbürgerinnen und Mitbürger ihren Glauben öffentlich bekennen und ausüben möchten. Sie stellen auch unser Verhalten in Frage. Ein gemeinsames Vertrauen in Gott, zu dem wir uns in gegenseitigem Respekt vor den jeweils anderen Religionen bekennen, könnte uns in unserem Überfordertsein, die Welt zu regieren, entlasten. Zudem würden sich neue Möglichkeiten der Verständigung eröffnen. Der Patriarch Gregor von Damaskus betonte vor acht Wochen in Neckarsulm, wie existentiell es für Orientale sei, mit Menschen in Dialog zu treten, die an Gott glauben.
Natürlich sage ich das als Pfarrer. Ich sage es aber auch als Mitbürger dieser Stadt, der nicht anders weiß, wie wir unserer politischen Verantwortung gerecht werden könnten, als im demütigen Anerkennen der Komplexität unserer Welt, die Gott in seinen Händen hält und erhält. Denn jedem Menschen wäre dann als Ebenbild Gottes eine Unversehrtheit eigen, die zu schützen Gottesdienst und zugleich politisches Handeln wäre.
Wenn wir lernen, über unsere Ängste zu sprechen, wenn wir uns mühen, die Zusammenhänge unserer Welt nicht zu ignorieren, und wenn wir Achtung haben vor jedem Menschen als Gottes Geschöpf, wird es auch keine Vernichtung von Menschen geben, die zu betrauern und an sie zu erinnern, wir hier zusammengekommen sind.
Roland Rossnagel

(Es gilt das gesprochene Wort)